4. Kapitel
Wieso ausgerechnet er!«, brummte Lea vor sich hin, während sie sich mit großen Schritten vom Haus entfernte.
Es war nicht zu fassen, dass ihr James Bond ausgerechnet hier, in Edinburgh, noch mal über den Weg lief! Nein, sein Name war nicht Bond, sondern Adam - wie der erste Mann in der Bibel. Wie passend für einen, der Testosteron versprühte, wie ... eineTestosteronmaschine. Lahm! Selbst ihre Gedanken waren lahm. Genau wie ihre Reaktion vorhin, als er das Zimmer betrat. Sie war so sicher gewesen, dass er sie erkennen würde, aber rückblickend war das natürlich lächerlich.
Erstens war sie ziemlich gut verkleidet. Und zweitens waren seit ihrer damaligen Begegnung in Istanbul - 60 Sekunden in einem Hotelgang - sieben Jahre vergangen. Sie selbst konnte sich vor allem deshalb noch so gut daran erinnern, weil sich ihr Leben zwei Wochen später komplett auf den Kopf gestellt hatte.
»Sei nicht traurig, Lea, wir haben doch schon vorher gewusst, dass das Ganze ein falscher Alarm sein könnte«, versuchte Liam sie zu trösten.
»Ach, ich bin nicht traurig. Ich habe nur gedacht...« Sie sprach nicht weiter. Sie wollte nicht an die Vergangenheit erinnert werden.
»Umso besser. Außerdem war's kein kompletter Reinfall.« Liam schien im Moment vor ihr her zu gehen. Oder zu schweben, sie hätte es nicht sagen können. Auf ihre diesbezügliche Frage hatte er einmal geantwortet, es sei eine Mischung aus beidem. Sie überquerten eine Straße und kamen an einem roten Briefkasten vorbei. Vor ihnen ragte die St. Mary's Cathedral auf. »Diese Ladys waren die reinste Augenweide.«
»Freut mich, dass wenigstens du was davon hattest«, sagte Lea sarkastisch.
Liam lachte. »Ach komm, Lea, du willst mir doch nicht weismachen, dass dich diese Knaben kalt gelassen haben?«
Kalt gelassen? Was diesen Adam betraf, war das die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber das hätte Lea nie zugegeben; Liam hätte sie bis in alle Ewigkeit damit aufgezogen.
»Na ja, mag sein, dass sie ganz gut ausgesehen haben«, sagte sie. »Aber der eine ist verheiratet, und der andere ist ein Weiberheld und eingebildet noch dazu.«
»Und das schließen Sie aus einem einfachen Hallo?
Oder haben Ihre Geister Ihnen das erzählt?«
Lea erstarrte. Sie spürte, wie ihre Wangen unter der Theaterschminke zu glühen begannen.
»Huh, tut mir leid, Lea, aber ich hab ihn gar nicht kommen hören«, entschuldigte sich Liam, aber Lea hörte es kaum. All ihre Sinne waren auf den hinter ihr stehenden Mann konzentriert.
»Wow, das ist mir jetzt ein bisschen peinlich«, fuhr Liam fort. »Ich lass euch beide mal kurz allein, ja?«
Lea drehte sich langsam um.
Vor ihr stand Adam, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte sie spöttisch. Sie hatte sich gerade bei ihm entschuldigen wollen, aber seine Haltung ärgerte sie.
»Und - sind Sie das nicht?«, fragte sie herausfordernd.
»Was denn?« Überrascht ließ er die Arme sinken.
»Na, ein Frauenheld.«
Adam lachte auf, trat aber dabei von einem Fuß auf den anderen. Da bemerkte Lea, dass er gar keine Jacke anhatte.
Er musste fürchterlich frieren!
»Habe ich etwas im Haus vergessen?«, erkundigte sie sich rasch.
»Nein.« Adam grinste und machte eine spöttische Verbeugung. »Dieser Frauenheld ist gekommen, um Sie sicher nach Hause zu geleiten.«
»Im Pulli? Sie spinnen wohl?«
Mein Gott, jetzt benahm sie sich schon wie eine besorgte Glucke! Was musste er von ihr denken! Führt auf offener Straße Selbstgespräche (mit Geistern?). Beleidigt ihn dabei auch noch. Und jetzt führte sie sich auf wie seine Mutter! Zumindest musste er das so sehen.
Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, wie still er geworden war. Er stand einfach nur da und schaute sie auf dieselbe intensive Art an wie vorhin im Speisezimmer.
Das machte sie ganz nervös.
»Ich brauche keinen Begleiter«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.
»Wieso verstecken Sie sich hinter dieser Verkleidung?«, fragte er.
Lea wünschte, er würde seinen bohrenden Blick woandershin richten. Warum schaute er sie so an? Was wollte er von ihr? Während sie noch überlegte, was sie auf seine Frage antworten sollte, ertönte plötzlich ein Schrei.
»Lea! Lea! Komm schnell!«
Lea vergaß alles um sich herum. Das war Liam! Wo war er? Sie schaute sich erschrocken um.
»Lea!«
Von der Kathedrale. Mit schwingenden Halsketten rannte sie in die betreffende Richtung. Sie hatte keine Zeit zu überlegen, was sie da tat und welche Folgen es haben konnte. Sie wollte nur zu Liam. Er war in Schwierigkeiten.
Mit heftig schwingenden Armen rannte sie den Gehweg entlang auf die Kirche zu. Seine Stimme kam von weiter seitwärts, wo eine schmale Straße an dem Gebäude vorbei führte. Sie sah, dass sie von einem Grünstreifen gesäumt wurde, und rannte darauf zu.
Und wäre über den reglosen Körper gestolpert, wenn nicht zwei starke Arme sie im letzten Moment zurückgerissen hätten.
Adam stieß sie zur Seite und ging neben der bewegungslosen Gestalt in die Hocke.
»Ist er tot?«, flüsterte Lea, obwohl sie sich vor der Antwort fürchtete.
»Nein«, antwortete Adam rau.
Sie konnte weder sein Gesicht, noch das des armen Mannes erkennen, es war zu dunkel.
»Der arme Mann ist überfallen und niedergeschlagen worden!«, ereiferte sich Liam. »Und dann ist der Mistkerl mit seiner Aktenmappe abgehauen. Er ist um die Kirche herumgerannt, gerade eben! Ich hab versucht, ihn aufzuhalten, Lea, ehrlich, aber ...«
Lea konnte Liams Frustration gut verstehen, aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie schob ihre Hände in ihre Taschen, doch dann fiel ihr ein, dass sie ihr Handy zu Hause vergessen hatte.
»Wir müssen sofort die Polizei holen. Dieser Mann ist überfallen und ausgeraubt worden. Der Kerl ist mit seiner Aktentasche in diese Richtung abgehauen!«, erklärte sie Adam atemlos. »Rasch, damit die Polizei ihn noch erwischt.«
Adam war blitzschnell auf den Beinen. Er drückte ihr ein Handy in die Hand. »Rufen Sie die Polizei, und bleiben Sie bei ihm. Bin gleich wieder da.«
Bevor sie protestieren konnte, war er verschwunden.
»Also, schnell ist er, das muss man ihm lassen«, sagte Liam anerkennend. Lea ging neben dem reglosen Mann in die Hocke. Sie starrte auf das blau leuchtende Display des Handys, das Adam ihr überlassen hatte, und wählte schließlich den Notruf.
Adam war noch nicht wieder zurückgekehrt, als zehn Minuten später mit heulender Sirene die Polizei eintraf, gefolgt von einem Notarztwagen.
Lea sah zu, wie der arme Mann auf einer Bahre in den Krankenwagen gehoben wurde. Die Helfer hatten ihn mit einer warmen Decke zugedeckt. Ein Arm baumelte von der Bahre. War das eine Tätowierung?
»Sie sagen also, Sie haben jemanden wegrennen sehen und sind dann auf diesen Mann gestoßen?«
Die Polizeibeamtin, die sich als Constable Campbell vorgestellt hatte, stand mit gezücktem Notizblock vor ihr und schrieb eifrig alles mit. Der Krankenwagen sauste währenddessen mit heulender Sirene davon.
»Ja. Ich sagte zu meinem Bekannten, da sei jemand mit einer Aktentasche unter dem Arm weggerannt. In diese Richtung.« Sie deutete dorthin, aber die Polizeibeamtin blickte nicht auf. Sie hatten die Geschichte bereits zweimal durchgekaut, und jedes Mal hatte Lea in die betreffende Richtung gezeigt. »Da hat Adam mir sein Handy gegeben und gesagt, ich soll die Polizei holen. Und er selbst ist weggerannt, um zu sehen, ob er den Kerl vielleicht noch erwischt.«
Die Beamtin hörte auf zu schreiben und hob den Kopf, denn in diesem Moment erschien ihr Partner. Er war in die Kirche gegangen, um nach weiteren Tatzeugen zu suchen.
»Tom?«
»Nichts«, antwortete der Mann. Er warf Lea einen neugierigen Blick zu, wich jedoch zurück, als ihm ihr Geruch entgegenschlug.
»Also gut. Wir schauen uns am besten die Überwachungskameras an, vielleicht ist unser Aktentaschenräuber ja drauf.«
Constable Campbell seufzte und wandte sich wieder an Lea, während ihr Partner zum Auto ging. »Und jetzt erzählen Sie mir noch mal genau, woher Sie diesen Adam kennen.«
Überwachungskameras? Verdammt, daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Wenn es die gab, würde die Polizei vielleicht sehen, dass sie ohne ersichtlichen Grund zu dem Niedergeschlagenen gerannt war. Wie sollte sie das erklären? Sie hätte sagen sollen, dass sie etwas gehört hatte und nicht gesehen. Ob sie ihre Geschichte lieber gleich ändern sollte? Und wie sollte sie erklären, woher sie Adam kannte? Dann musste sie ja auch erklären, was sie im Haus seines Freundes gesucht hatte, und dann würde es erst richtig losgehen ... Wenn doch nur Liam noch hier wäre! Jetzt hätte sie seinen trockenen Humor gut gebrauchen können. Aber Liam war beim ersten Heulen der Sirenen ausgerissen. Er war vor zweihundert Jahren von einem Constable erwürgt worden und litt seitdem unter einer starken Polizei-Phobie.
Was sie ihm nicht verdenken konnte.
»Und wer sind Sie?«
Lea folgte Constable Campbells Blick und stieß einen erleichterten Seufzer aus.
»Das ist mein Bekannter«, erklärte sie rasch. Sie starrte in Adams ausdrucksloses Gesicht und erschauderte unwillkürlich. Er wirkte so ... abweisend. Ja, er schaute sie nicht mal an.
»Das ist die Aktentasche, die dem Mann geraubt wurde.
Ich habe den Räuber an einen Laternenpfahl gebunden.
Palmerston Place.«
»Was?!«, riefen Lea und Constable Campbell zugleich aus. Adam ging nicht darauf ein.
»Der Beraubte wird seinen Angreifer identifizieren können, sobald er wieder zu Bewusstsein kommt. Sie haben den Verbrecher, und Sie haben das Beweisstück. Sie brauchen uns nicht mehr.«
Die Beamtin nahm die Aktentasche entgegen, wirkte aber keineswegs begeistert. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, wie ich meinen Job machen soll, oder?«
»Nein«, antwortete Adam, »ich habe Ihren Job bereits für Sie gemacht.«
Lea hatte sich noch nicht ganz von seiner ersten Äußerung erholt, als er sie auch schon bei der Hand nahm und wegführte.
»So können Sie nicht mit der Polizei reden!«, zischte sie ängstlich. Constable Campbell würde sicher jeden Moment die Verfolgung aufnehmen.
»Habe ich aber«, entgegnete Adam knapp. Er klang noch immer sehr distanziert, ganz anders als zuvor.
»Adam! Wir können nicht einfach abhauen!«
Er seufzte, ging aber keineswegs langsamer. »Doch, können wir. Sie müssten uns schon verhaften, wenn sie uns aufhalten wollen. Und das wollen sie sicher nicht. Also gehen Sie weiter - oder wollen Sie denen wirklich erklären, was Sie in diesem Teil der Stadt zu tun hatten und wie Sie mich kennen gelernt haben?«
Nun, da hatte er nicht unrecht. Trotzdem gefiel ihr das Ganze nicht. Sobald sie um eine Ecke in eine Seitenstraße eingebogen waren, riss sie ihre Hand los.
»Ich habe schließlich nichts verbrochen!«
Er packte sie beim Arm und brachte sie mit einem Ruck zum Stehen. »Und was genau haben Sie getan, Madame Foulard? Woher wussten Sie, dass der Mann ausgeraubt wurde?«
Lea schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er hielt ihren Arm fest umklammert. Und das erinnerte sie an eine andere Szene, einen anderen Mann, der gewalttätig geworden war. Sämtliche Muskeln in ihrem Körper spannten sich an, ihre Augen sprühten vor Zorn.
»Lassen Sie mich sofort los«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Etwas in ihrem Ausdruck schien ihn zu erschrecken. Er ließ sie sofort los und trat einen Schritt zurück.
»Antworten Sie mir, Madame.«
»Oder was?« Sie würde sich nicht noch einmal einschüchtern lassen. Nie wieder! Er musste seine Antworten schon aus ihr herausprügeln, ansonsten würde sie gehen. »Was dann?«
Adam musterte sie verwirrt. »Nichts. Ich würde einem Unschuldigen nie etwas zuleide tun.«
Wie seltsam, so etwas zu sagen. Aber ihr genügte es. Sie nickte grimmig, die Hände zu Fäusten geballt. »Gut, denn ich habe für heute die Schnauze gestrichen voll. Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg!«
Aber sie wartete nicht ab, was er tat, sondern schritt um ihn herum und ging davon. Nach Hause.